Gelese

Literatur ist ganz in Ordnung.

Seit vielen, vielen Jahren lese ich genauso gerne wie unregelmäßig. Es gibt Phasen, da lese ich innerhalb eines Monats 38 Bücher mit jeweils 1.000 Seiten und verliere währenddessen den Blick für die Realität und erzähle Menschen, dass ich 38 Bücher mit jeweils 1.000 Seiten im Monat lese. Es gibt aber auch Phasen, in denen ich monatelang kein einziges Buch aufschlage und lieber regelmäßig, um nur ein Beispiel zu nennen, veganes Hackfleisch zubereite. Ich kaufe mir gerne diese eingeschweißten veganen Hackblöcke und schmeiße sie direkt aus der Packung in die Pfanne. Dann zersteche ich den Klumpen mit einem Pfannenwender in kleine Würfel und bezeichne das Ganze nach Fertigstellung als »Essen«. Dieses Essen sowie meine Unregelmäßigkeit beim Lesen sind genauso wie Literatur: Ganz in Ordnung.

Gleichzeitig zählt Lesen aber auch zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Natürlich sind Musik, Filme, Videospiele und Hackfleischbrockenzerstechen ebenfalls ganz in Ordnung, jedoch steht Lesen eine Stufe über allem.

Warum? Weil ich mir gerne selber Fragen stelle und das in der Literatur so gut funktioniert? Möglich. Es liegt schon einmal nicht daran, dass man in der Literatur in fremde Welten und Charaktere eintaucht, da ich das genauso bei den oben genannten alternativen Freizeitbeschäftigungen machen kann. Es gibt auf der Welt so viele Filme, in denen tauchende Menschen von tauchenden Haien angegriffen werden und daraufhin nie wieder auftauchen, dass ich vollkommen die Lust verloren habe, irgendwo einzutauchen. Nein, Eintauchen taugt nichts.

In Wirklichkeit sind es die Worte. Ja, ich mag Worte. Und die Literatur ist voll davon. Manchmal vielleicht sogar ein bisschen zu voll, wenn ich mir ansehe, wie dick und schwer das eine oder andere Buch in meiner kleinen Bibliothek sein kann. Aber das macht ja nichts. Sollte jemals ein böser Mensch mit einer Machete in mein Haus gerannt kommen, um mich auszurauben, kann ich in meine Bibliothek sprinten und mit Tolstoi um mich werfen. Ich habe meinen kleinen Zeh verloren, als mir beim Regaleputzen »Anna Karenina« auf denselben fiel. Selbstverständlich ist das eine Lüge, aber letztendlich ist Literatur auch nichts anderes.

Ich finde Worte ganz gut. Man kann sie lesen, mit ihnen spielen, sie vertauschen, verwechseln, aneinanderreihen und sich sogar über sie aufregen. Es macht mir Freude, mich mit ihnen zu beschäftigen. Gleichzeitig macht es mir Freude, anderen dabei zuzusehen, wie sie selbst mit Worten spielen. Und genau das ist Literatur. Es gibt Menschen, die gut mit Worten hantieren können, es gibt Menschen, die nicht gut mit Worten hantieren können, und natürlich gibt es noch einen ganzen Haufen Menschen, der irgendwo dazwischen liegt. Ich mag sie alle. Ich mag es, sie zu lesen. Ich mag es, zu lesen.

Und trotzdem habe ich es in meinem bisherigen Leben so unregelmäßig gemacht, dass es mir manchmal ein wenig unangenehm war, so viele Bücher in meiner Bibliothek herumstehen zu haben.

Selbstverständlich gibt es daran nichts, was einem unangenehm sein muss. Man kann viel von etwas besitzen, ohne sich andauernd damit beschäftigen zu müssen. Aber irgendwie hat es mich gestört. Warum beschäftigt man sich nicht mit etwas, was man eigentlich gerne macht?

Manchmal war mir Lesen zu anstrengend, zu langatmig. Ich hatte nicht die Nerven dafür, mich zu beruhigen. Heutzutage kann man sich auf Videoplattformen mit sekundenlangen Videos stundenlang ablenken lassen. Das bringt einen im Leben zwar überhaupt nicht weiter und verschwendet einfach nur Lebenszeit, aber wenigstens lenkt es einen davon ab, dass man Lebenszeit verschwendet. Die Realität ist ein paar Schritte zurückgetreten, während man in einem kurzen Kochvideo irgendeinem Typ dabei zusieht, wie er einen Hackfleischblock in eine Pfanne schmeißt und diesen daraufhin mit der gebundenen Ausgabe von »Anna Karenina« zu einem Hackfleischpfannkuchen zerstampft.

In meiner Bibliothek bekommt man von all diesen Dingen nichts mit. Hier herrscht Stille. Hier sitze ich in einem grünen Sessel, der aussieht wie eine Hand, lege die Füße auf die oberste Stufe einer metallenen, zweistufigen Küchenleiter und lese. Eigentlich ist das schön. Aber gleichzeitig muss ich mich dazu überwinden, den Bildern und Geräuschen den Rücken zu kehren, denen es so leicht fällt, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Kurz vor meinem vierzigsten Geburtstag stand ich in meiner Bibliothek und dachte: „Literatur ist ganz in Ordnung. Warum also nicht endlich wieder mehr lesen?“ Ich bin kein Freund großer Vorsätze. Und vor allem bin ich kein Freund davon, zu sagen: „Ab dann und dann wird alles anders.“ Aber irgendwie hielt ich den vierzigsten Geburtstag für einen schönen Moment, um einmal über den eigenen Schatten zu springen.

Ich besitze aktuell etwa 2.000 Bücher. Ich habe sie nie gezählt. Ich habe keine Liste mit allen Büchern in meiner Bibliothek. Ich kann nur schätzen. Gehen wir einfach mal davon aus, dass ich achtzig Jahre alt werde, bleiben mir noch vierzig Jahre für 2.000 Bücher. Das sind fünfzig Bücher pro Jahr, also etwa ein Buch pro Woche für den Rest meines Lebens, aber nur, wenn wir annehmen, dass ich mir keine weiteren Bücher mehr zulege. Da ich mir aber selbstverständlich immer und immer wieder neue Werke in meine Bibliothek stellen werde, können wir davon ausgehen, dass es mir nicht gelingen wird, während meines restlichen Lebens alle Bücher in den Regalen bei mir zu Hause zu lesen.

Das klingt jetzt irgendwie traurig. Ist es aber nicht. Ich mache mir deswegen keine Sorgen, habe keine Angst vor dem Tod, werde nicht panisch und so weiter. Eigentlich sehe ich die Sache realistisch und entspannt. Man kann nie alles lesen, sehen, hören, was man will. Viel eher ist es schön, dass sich in diesem einen Raum genug Zeug befindet, um mich für den Rest meines Lebens zu unterhalten.

Seit vier Monaten bin ich vierzig. Und seit vier Monaten habe ich jeden Tag gelesen.

Das Ganze hat sich zu einer Regelmäßigkeit entwickelt, die mir viel Freude bereitet. Wie gesagt: Ich habe schon immer gerne und viel gelesen. Ich bin Schriftsteller. Ich habe Germanistik studiert. Literatur war stets ein wichtiger Teil meines Lebens. Aber aktuell genieße ich es, all die Worte um mich zu haben und so viel Freude aus ihnen zu ziehen, wie lange nicht mehr.

Und darum habe ich diese Seite erstellt.

Ich möchte über Literatur schreiben. Ich möchte über jedes Buch schreiben, das ich seit meinem vierzigsten Geburtstag gelesen habe. Ich möchte über die Anfertigung einer Bücherliste schreiben. Ich möchte über meine Bibliothek schreiben. Meine Lesezeichen. Und über vieles mehr. Aber vor allem möchte ich Worte über Worte verlieren, weil ich Worte so mag.

Ich weiß nicht, ob meine Texte über Bücher Rezensionen sind. Eigentlich sind es eher Gedanken. Wenn ich ein Buch lese, denke ich nicht an Jahreszahlen, Orte oder Namen. Ich vergesse sehr schnell, wann oder wo eine Geschichte spielt. Dinge dieser Art interessieren mich weder in der Realität noch in der Literatur. Mich interessiert, worüber ich nachdenke, während ich lese. Oder danach. Und über diese Gedanken möchte ich schreiben. Denn jedes Buch, egal wie sehr es mir nun gefallen hat oder nicht, hat irgendeinen Gedanken in mir hervorgerufen. Das kann hin und wieder recht chaotisch werden, aber letztendlich ist Literatur ja vor allem chaotisch. Genau wie die Menschen, die sie produzieren, und die Welt drumherum. Ich werde diese Texte trotzdem Rezensionen nennen, weil es eigentlich vollkommen egal ist, wie man den Kram nennt. Darum heißt diese Seite auch einfach nur »Gelese«. Weil es hier um das geht, was ich lese. Manchmal kann die Welt so einfach sein.

Mehr bleibt mir an dieser Stelle nicht zu sagen. Ich möchte euch auf eine Reise durch die Welt der Literatur mitnehmen und hoffe, dass ihr am Ende genauso denkt wie ich:

Literatur ist ganz in Ordnung.

Sollte mir das gelingen, bin ich zufrieden.

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